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Das Leitmotiv des Wassers in den Werken von Hermann Hesse— eine kurze Analyse.

Das Wasser spielt in den Werken von Hesse eine sonderbare Rolle. Diese Rolle möchte ich anhand von zwei Beispielen- die Erzählung „Unterm Rad” und der Roman „Siddhartha” - darstellen und auszulegen versuchen. Da Hesses Werke größtenteils auf eine Darstellung seiner innerlichen Kämpfe und seiner eigenen Entwicklung hinweisen, wäre es angemessen, seine Lebensgeschichte gut zu betrachten. 

Hermann Hesse wurde am 2. Juli 1877 in Calw, Baden-Wuerttemberg geboren. Ein äußerst fantasievolles und begeistertes Kind, ihm mangelte es auch nicht an Begabung. Bei allem, was er tat, hatte er ein Talent: Gedichte beispielsweise konnte er auffällig gut schreiben.
Doch er war zugleich ein stürmischer, nicht zu bezwingender Bube. Sein starker Charakter war zu keinerlei Unterdrückung bereit. Dazu war er auch noch ein intelligenter Schüler; er zählte zu den besten seiner Klasse, ohne sich anscheinend darum im geringsten zu bemühen. Seine vielversprechenden Leistungen in der Volksschule veranlassten 1891 einen Wechsel auf die Lateinschule in Göppingen, wo er sich auf das schwierige württembergische Landesexamen vorbereitete. Dieses Landexamen war die Voraussetzung für die Aufnahme ins berühmte Maulbronn Klosterseminar, das letztlich zu einer Ausbildung zum evangelischen Theologen führte. Hesse bestand dieses Examen mit guten Noten und kam dann nach Maulbronn ins Klosterseminar. Zu Beginn seines Aufenthalts an diesem Ort berichtete er seinen Eltern nur Gutes; doch als die Zeit verging wurde der Junge fortschreitend unglücklicher und elender, bis er ohne einsehbaren Grund dem Seminar entfloh; er wurde am nächsten Tag aufgegriffen und dann für eine dieser Stelle nicht angepasste Person erklärt. Seine Eltern erhielten die Empfehlung, ihn aus dem Kloster zu nehmen und zurück nach Hause zu bringen. Dies taten sie, und Hesse ging jetzt durch viele verschiedene Anstalten und Schulen hindurch. Diese Periode seines Lebens trug wesentlich zur Bildung und Formung der geistigen Einstellung und Überzeugungen des jungen Mannes bei. 

Die Erzählung „Unterm Rad” verweist genau auf diese Zeit. Wenn die Handlungen der Geschichte und die tatsächlichen Geschehnisse in Hesses Leben verglichen werden, dann lassen sich sehr enge Zusammenhänge und Ähnlichkeiten feststellen. Der Protagonist, Hans Giebenrath, stammt aus einer schwäbischen Kleinstadt, ist ein begabter Junge und wird ins Maulbronn Seminar aufgenommen, genau wie Hesse. Er gerät dann langsam ins Unglücklichsein und wird schließlich vom Seminar entlassen und geht nach Hause, und verlässt seine bis in die Nutzlosigkeit getriebenen übermäßigen akademischen Beschäftigungen. Kürzer zusammengefasst: alles, was wir bis jetzt von Hesses frühen Jahren erfahren haben, spiegelt sich nochmals in der Geschichte und Darlegung des Lebens des Hans Giebenrath wider. 
An dieser Stelle kommt die Wichtigkeit des Wassers zum Vorschein. Hesse will mithilfe von den Charakteristiken des Wassers und von dem Umgang des Hans Giebenrath mit ihm die armselige Lage derjenigen ans Licht bringen, die sich dem Druck der Gesellschaft ergeben und dadurch unwiderruflich verlorengehen. 
Zu Beginn der Geschichte wird Hans’ Liebe zum Angeln ausführlich beschrieben; „Ach, das Angeln! Das hatte er nun auch fast verlernt und vergessen, und im vergangenen Jahr hatte er so bitterlich geheult, als es ihm verboten worden war, der Examensarbeit wegen. Das Angeln! Das war doch das Schönste in all den langen Schuljahren gewesen”..(S. 13). Zu dieser Zeit bereitet das Wasser Hans Freude; es spiegelt den Zustand seines Lebens wider. Die vielfarbige und reichliche Beschreibung des Wassers und der in ihm lebenden Wesen bestätigt, dass Hans’ Seele noch immer Anziehung zu etwas spüren kann, dass sie sich noch am Leben hängt. 
Hinter dieser Auffassung aber versteckt sich eine andere verschleierte Wahrnehmung dieses Handlungspunktes. Zwar macht das Angeln dem Buben Freude, aber nach genauerem Nachdenken ist auch festzustellen, dass das Angeln für die meisten ein auf ein Ziel orientierter Sport ist- man will den Fisch. Dadurch will Hesse die Oberflächlichkeit der bürgerlichen Denkweise ans Licht bringen. Auf den Vorgang selbst wird in den meisten Fällen keinen großen Wert gelegt, sondern das Ergebnis ist das Erfreuende. Soeben ist es auch in der Geschichte zu sehen. Hans schätzt die einzelnen Augenblicke des Lebens nicht, er zielt im Gegensatz auf eine ferne Zukunft, die er durch seine akademischen Bemühungen zu versichern und festzustellen versucht. In der Wassersymbolik, Hans erfreut sich am Angeln nicht seines eigenen Vorgangs halber; dem an ihm vorbeiziehenden, für das Leben stehenden Wasser wird seine vollständige Bedeutung nicht gewährt. Hans sondern strebt das Ergebnis- die Fische, die in diesem Falle für eine gesicherte und bequeme Zukunft stehen- an, und dabei wird dem Moment seinen gerechten Wert verweigert. 
Als Hans dann ins Seminar kommt, bricht er nun allen Kontakt zum Wasser- und da das Wasser als Symbol für das Leben dient- auch zum Leben ab. Er verliert sich in die Krummheiten und Verwirrungen des akademischen Gewühles, was ihn fortschreitend trauriger, elender und träger macht, und darüber hinaus den Wandel in der Darstellung und Interpretation des Wassers verursacht. Das Wasser nimmt nun eine veränderte Gestalt an: es ist nun etwas, worin man sich verwickelt, etwas, was der Zukunft eines Menschen ein Ende bereiten kann:  „Keiner, außer vielleicht jenem mitleidigen Repetenten, sah hinter dem hilflosen Lächeln des schmalen Knabengesichts eine untergehende Seele leiden und im Ertrinken angstvoll und verzweifelnd um sich blicken.“ (S.109) 
Bei einem Unfall kommt ein Mitschüler von Hans in einem See ums Leben, wobei das Wasser als die „ dunkle Kühle” bezeichnet wird. Bei diesem Punkt in den Handlungen ist Hans längst nicht mehr zu retten; der Wahn des Ausbildungswesens hat seine Arbeit geleistet. Für Hans ist die Welt verdorben, welches dadurch zu beweisen ist, dass nach seinem Rückkehr nach Hause das Wasser kaum noch erwähnt wird, bis ans Ende der Erzählung. Es fehlt Hans ein echtes Leben, repräsentiert vom Fehlen des Wassers in diesem Abschnitt der Handlungen. 
Die Geschichte geht unerwartet und abrupt zu Ende mit dem Tod von Hans. Auf unbekannte Weise gerät er ins Wasser und ertrinkt- „ [..] trieb der so bedrohte Hans schon kühl und still und langsam im dunklen Flusse talabwärts. Ekel, Scham und Leid waren von ihm genommen, [..] mit seinen Händen und Haaren und erblassten Lippen spielte das schwarze Wasser.” Hans ist nun tot, und das Wasser hat ihn zurück zu sich genommen. 
An dieser Stelle ist noch eine weitere mögliche Bedeutung des Wassers wahrzunehmen. Es wäre keine Übertreibung oder Anmaßung, jene Meinung zu vertreten, dass für Hesse das Wasser hier das Göttliche und das Sublime darstellt. Im Hinblick auf seine anderen Werke und auf die in ihnen vorgeführte Denkweise, wäre dem Wasser noch diese weitere Bedeutung des Ewigen zuzuschreiben. Als Hans stirbt, ist er nun endlich wieder eins mit dem Göttlichen und ist von seinen Leiden und Fesseln befreit. Diese Stellung wird auch von den letzten Sätzen unterstützt, in denen steht- „ Über dem Städtchen war ein fröhlich blauer Himmel ausgespannt, im Tal glitzerte der Fluss, die Tannenberge blauten weich und sehnlich in die Weite.” Der Ton ist nun ganz anders; er ist nicht mehr düster und traurig. Der Fluss ist gleichfalls nicht mehr schwarz und dunkel, sondern glitzert; das weist darauf hin, dass die Seele Giebenraths nun endlich seine menschlichen Leiden los ist; das Glitzern ist das letztliche Aufleuchten seiner Seele im Göttlichen. Das tödlich endende Versinken in der eigenen Seele, ins „schwarze Wasser”, wäre somit schließlich ein Versinken in einer höheren Einheit, Gott. ²

Das zweite Beispiel für das Leitmotiv des Wassers in Hesses Werken ist der Roman „Siddhartha”. Hesse schrieb dieses Buch zwischen 1919 und 1922, und war bis dann ziemlich weit auf seiner geistigen Entwicklungslaufbahn gekommen. In diesem Bildungsroman zeigt Hesse ein vielmehr ruhiges und tief in Weisheit verankertes Bild des Wassers. Siddhartha, ein Mensch dauernd auf der Suche nach dem Atman, dem All-einen, macht viele Entwicklungen, Lehren, und Lebensweisen durch- zuallererst verlässt er seine Heimat und wird zum Samana, dann zum Mönch, dann zum Weltmann und schließlich zum Fährmann- um endlich diese so sehnlich erwünschte Erleuchtung zu erlangen. Es ist in seiner Tätigkeit als Fährmann bei einem Fluss, dass er sein Ziel erreicht. Jene Erleuchtung erfolgte dank dem Fluss und dem Fährmann  Vasudeva, der ihn lehrte, wie man vom Flusse lernen sollte, wie man ihm zu lauschen hat.  

Zu Anfang des Romans, nach einem Treffen mit dem Erhabenen Buddha, wonach er sich sehr wohl fühlt und seines Zieles und der dazu benötigten Vorgehensweise ganz bewusst zu sein glaubt, muss er einen Fluss überqueren. Hier trifft er zum ersten Mal denselben Vasudeva, der ihm später, nach all den auf seiner Suche nach Erleuchtung von ihm begangenen Irrtümern, seine Weisheit erteilt, und zu diesem Anlass sagt Vasudeva dem Jüngling-  „[…]ein sehr schöner Fluss, ich liebe ihn über alles. Oft habe ich ihm zugehört, oft in seine Augen gesehen, und immer habe ich von ihm gelernt. Man kann von einem Flusse lernen. [..] Gewiss. Auch das habe ich vom Flusse gelernt: alles kommt wieder! Auch du, Samana, wirst wiederkommen.“ (S. 43, 44).
Siddhartha aber glaubt, die Lösung gefunden zu haben und geht seines Weges ganz selbstbewusst, doch er gerät schon wieder in Verwicklungen und Trübheiten. Letztendlich kommt er lebensmüde und nach schweren Leiden unabsichtlich zurück an denselben Fluss und erlebt bei ihm eine Wiedergeburt: „Ihm schien, es habe der Fluss ihm etwas Besonderes zu sagen, etwas, das er noch nicht wisse, das noch auf ihn warte. In diesem Fluss hatte sich Siddhartha ertränken wollen, in ihm war der alte, müde, verzweifelte Siddhartha heute ertrunken. Der neue Siddhartha aber fühlt eine tiefe Liebe zu diesem strömenden Wasser und beschloss bei sich, es nicht so bald wieder zu verlassen.“ (S. 82) In Siddhartha schlagen nun die ersten Sprossen einer Erkenntnis aus. „Von den Geheimnissen des Flusses aber sah er heute nur eines, das ergriff seine Seele. Er sah: dies Wasser lief und lief, immerzu lief es, und war doch immer da, war immer und allezeit dasselbe und doch jeden Augenblick neu! O wer dies fasste, dies verstünde! Er verstand und fasste es nicht, fühlte nur Ahnung sich regen, ferne Erinnerung, göttliche Stimmen.” 
Er beschließt, ein schlichtes, einfaches Leben bei dem Fluss als Helfer des jetzt alt gewordenen Vasudevas zu führen. Hier entwickelt er langsam die Fähigkeit, dem Fluss zuzuhören und von ihm zu lernen. Hier steht der Fluss also unweigerlich für das Ewige und Göttliche. Der Fluss war immer da, Siddhartha hatte ihn sogar einmal bereits überquert auf der Suche nach Atman, ohne zu wissen, dass er nirgendwo anders hätte suchen müssen: alles lag gerade vor seinen Füßen. Das ist ein wesentlicher Punkt, den Hesse stark unterstrichen hat; Siddhartha sagt zu seinem Freund Govinda, nachdem er zur Erleuchtung gelangt ist: „ Suchen heißt: ein Ziel haben. Finden aber heißt: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben. Du, Ehrwürdiger, bist vielleicht in der Tat ein Sucher, denn, deinem Ziel nachstrebend, siehst du manches nicht, was nah vor deinen Augen steht.” 
Während Siddhartha dem Wasser lauscht und zuhört, kommt er zu der größten Erkenntnis seines bisherigen Lebens, womit er auch Erleuchtung erlangt: nämlich, dass es keine Zeit gibt; alles ist und kann nur Gegenwart sein. Er sagt- „ [..] dass der Fluss überall zugleich ist, am Ursprung und an der Mündung, am Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall zugleich, und dass es für ihn nur Gegenwart gibt, nicht den Schatten der Vergangenheit, nicht den Schatten Zukunft. […] Nichts war, nichts wird sein; alles ist, alles hat Wesen und Gegenwart.“ (S. 87/88)
Die ewige Verwandlung des Wassers von Quelle, Bach, Fluss, Meer, Wolke, Regen, und zurück zur Quelle dient also als Symbol für den ewigen Kreislauf des Lebens, von der Geburt bis zum Tod und wieder zur Geburt; vom Nichts zum Werden und dann zum Sein und dann wieder zum Nichts, und so weiter. Dennoch ist das Wasser gleichzeitig überall zugleich, was ein Beweis dafür ist, dass es keine Zeit geben kann. Das Wasser ist in diesem Roman infolgedessen als das All zu verstehen. 

Abschließend ist festzustellen, dass Wasser in den Werken von Hesse vor allem Reinigung, Wiedergeburt, die Überwindung der Gegensätze und das Einswerden mit dem All bedeutet. Es kommt auch oft im Zusammenhang mit dem Tod der Hauptfigur vor. Das Ziel Hesses, der sein ganzes Leben lang ein Suchender war, ist in die ewige Welt hineinzugehen, wo Zeit und Raum überwunden sind. Das Wasser ist für ihn das gesegnete Element, in dem die Ewigkeit erlebt wird. 





Quellen:


  1. Gebrochene Identität- Das Spiegelsymbol bei Hermann Hesse, Helga Esselborn-Krumbiegel, 2007.
  2. Individuation und absolute Ordnung im epischen Werk von Hermann Hesse, Ines Goepper, 2001.
  3. Wassersymbolik in den Romanen von Hermann Hesse, Eunkyung Song, 2000

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